Landschaft
Die Künstlerin als Teil der Landschaft
Die Formenvielfalt der Natur fasziniert Barbara Hepworth bereits seit ihrer Kindheit in Yorkshire und prägt ihr Verhältnis zur Landschaft. Dies wird auch für ihre spätere künstlerische Entwicklung von entscheidender Bedeutung sein:
Organische Formen, fließende Linien
„… ich, die Bildhauerin, bin die Landschaft.“ Diese fast schon programmatische Aussage ist zentral für das Verständnis von Hepworths Werk: Die Künstlerin fühlt sich nicht nur eng mit der Natur verbunden, sondern betrachtet sich als ein Teil von ihr. Der Umzug nach Cornwall verstärkt dieses Empfinden. Am eindrücklichsten zeigt sich die Annäherung Hepworths an ihre neue Umgebung durch die motivische Neuausrichtung ihrer Werke. Die Klippen, das Meer, die Wellen und der Wind finden Ausdruck in ihren Skulpturen, die zunehmend organische Formen und fließende Linien annehmen. Jede ihrer Skulpturen aus dieser Zeit, so Hepworth selbst, enthält in unterschiedlichem Maße die sich ständig verändernden Formen und Konturen der kornischen Landschaft.
Rhythmus der Gezeiten
Einige der in Cornwall entstehenden Werke tragen Namen wie Wave, Sea Form oder Pelagos (griechisch für Meer) und offenbaren Hepworths Faszination für die Landschaft von St Ives. Sea Form (Porthmeor) ist beispielsweise von einem Strand in der Nähe ihres Hauses inspiriert, an dem Hepworth das Meer und die Bewegung von Sand und Wind beobachtet. Für sie ist der Rhythmus der Gezeiten Teil einer natürlichen Ordnung, die Sicherheit und Beständigkeit vermittelt und auch den Menschen mit einschließt.
Aktiver Umweltschutz
In den 1940er-Jahren beginnt die Künstlerin, ihre Skulpturen im Freien auszustellen, so dass eine enge Verbindung zwischen ihren Werken und der natürlichen Landschaft entsteht. Der zunehmenden Bedeutung des technischen Fortschritts steht sie kritisch gegenüber und verurteilt insbesondere die Zerstörung der Natur immer wieder scharf. Später nutzt sie ihr Renommee als eine der bedeutendsten Künstlerinnen Großbritanniens auch, um aktiv Einfluss auf umweltpolitische Entscheidungen zu nehmen. So unterstützt sie 1963 lokale Aktivist:innen, die sich gegen die Wiedereröffnung einer Zinnmine in Cornwall wehren:
Landschaft einer Bildhauerin: Barbara Hepworth und das Land
Essay von Eleanor Clayton
LaIn einem 1961 gedrehten Dokumentarfilm der BBC sieht man Barbara Hepworth durch riesige Felsformationen hoch über der Landschaft Cornwalls klettern. Schließlich setzt sie sich zum Zeichnen auf einen Felsvorsprung und betrachtet das Panorama unter sich. Während die Kamera über das Umland schweift und auf Hügeln und Meer verweilt, hört man ihre Stimme: »Alle meine frühen Erinnerungen handeln von Formen, Gestalten, Texturen. Ich erinnere mich, wie ich zusammen mit meinem Vater in seinem Auto durch die Landschaft fuhr, und die Hügel waren Skulpturen, die Straßen grenzten Formen ab. Da war dieser Eindruck von physischer Bewegung über die Fülle von Hochmooren, durch die Senken und Hänge von Gipfeln und Tälern, sie mit Geist, Auge und Hand zu fühlen, zu sehen, zu erfassen. Die Struktur der Dinge zu begreifen. Skulptur, Fels, ich und die Landschaft. Dieses Gefühl hat mich nie verlassen, ich, die Bildhauerin, bin die Landschaft.«²
Diese Erinnerung verfasste die Künstlerin ursprünglich für die Rundfunkaufnahme »The Sculptor Speaks«. Sie ist zentral für das Verständnis von Hepworths Werk und wiederholt sich auf den ersten Seiten ihrer 1970 erschienenen Pictorial Autobiography, die Grundlage für zahlreiche nachfolgende Deutungen ihres Schaffens war. Die Betonung von materieller Begegnung, von Form, Kontur und Textur bietet viele Möglichkeiten einer Annäherung – von konkreten Assoziationen mit einer bestimmten britischen Landschaft bis hin zu allgemeineren Überlegungen zur Beziehung der Menschen und der sie umgebenden Welt.
Hepworths frühe Erinnerungen gehen zurück auf ihre Kindheit in West Riding of Yorkshire, wo ihr Vater Herbert Hepworth als Landvermesser tätig war. Als ältestes von vier Kindern durfte sie ihn manchmal auf Dienstreisen durch die Grafschaft begleiten, während er kommunale Bauwerke, Straßen und Brücken begutachtete. Diese Fahrten vermittelten Hepworth das, was sie 1937 beschrieb als »Formbewusstsein, … das Bewusstsein und Verständnis von Volumen und Masse, von den Gesetzen der Schwerkraft, den Konturen der Erde unter unseren Füßen, von Schub und Druck der inneren Struktur, von Raumverschiebung und Raumvolumen, vom Verhältnis des Menschen zu einem Berg und des menschlichen Auges zum Horizont«.³
Dennoch bilden ihre frühen Werke keine Landschaft per se ab, sondern sind weitgehend figurativ angelegt, so etwa Mother and Child (1934), auch wenn in der Wahl der Werkstoffe eine Beziehung zur Natur besteht. Entscheidend für Hepworths künstlerische Praxis ist die Technik des direct carving. Hierbei entsteht die skulpturale Form durch das direkte Herausarbeiten aus Holz oder Stein, anstatt sie zunächst in Ton zu modellieren und die Ausführung einer Werkstatt zu überlassen, wie es zur damaligen Zeit üblich war. Für Hepworth war die Beschäftigung mit natürlichen Materialien von größter Bedeutung. 1930 konstatierte sie in der im Architectural Association Journal erscheinenden Artikelserie »Contemporary English Sculptors«: »… es gibt eine unbegrenzte Vielfalt von Werkstoffen, aus denen sich Anregung schöpfen lässt. Ein jedes Material verlangt nach der ihm gemäßen Bearbeitung, und das Leben bietet eine unendliche Anzahl von Sujets, die es jeweils in einem bestimmten Werkstoff nachzubilden gilt. Tatsächlich wäre es möglich, ein Leben lang dasselbe Sujet in unterschiedlichem Stein zu meißeln, ohne dass sich die Form wiederholen würde.«⁴
1926 war Hepworth mit ihrem Ehemann John Skeaping nach einem Stipendienaufenthalt in Italien wieder nach London zurückgekehrt und zum Zeitpunkt dieser Äußerung bereits im Begriff, sich als führende Vertreterin des direct carving zu etablieren. Die Heimkehr nach England bot ihr Gelegenheit zu einer Reihe neuer Landschaftserfahrungen. Während sie in London lebte, hinterließen ihre Besuche an der Küste besonders tiefe Eindrücke bei ihr. 1931 lernte sie den Künstler Ben Nicholson kennen und sandte ihm Aufnahmen von Felsen, die sie auf einer kurz zuvor unternommenen Reise zu den Scilly-Inseln vor der Südwestspitze Englands fotografiert hatte. In dem begleitenden Brief schrieb sie: »Sie haben mich mehr bewegt als alle Skulpturen, die ich bislang gesehen habe. Wir fuhren mit einem Boot zu den westlichen Inseln hinaus, und dort erhoben sich purpurfarbene Felsen, Felsgruppen, Hunderte von Felsen, allesamt vom Wasser abgenutzt, doch wahrten sie ihre elementare Wucht, und umhersegelnd beobachteten wir den Wandel der Anblicke und überraschenden Bewegungen.«⁵
Kurz darauf verbrachte Nicholson mit Hepworth und einer Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern einen Urlaub in Happisburgh in Norfolk. Auch die Landschaft der Ostküste hatte Hepworth in ihrem Brief begeistert beschrieben: »… das Land ist eher flach, bis auf einen kleinen Hügel mit einer hohen Kirche aus Feuerstein und einem Leuchtturm. Die Bäume sind alle nach Westen gebeugt, und die Vögel scheinen alles zu beherrschen. In einem so flachen Gelände fühle ich mich, als hätte auch ich Flügel. Der Strand gleicht einem Band aus hellem Sand, so weit das Auge reicht.«⁶
Auf dieser Reise gingen Hepworth und Nicholson eine romantische Beziehung ein, die für Hepworth das Ende der Ehe mit Skeaping bedeutete. Hepworth und Nicholson schlossen sich einem Netzwerk zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler an, die Wegbereiter der geometrischen Abstraktion in London und Paris waren. Ab 1932 teilte Nicholson seine Zeit zwischen Hepworth in London und seiner ersten Frau Winifred mit den gemeinsamen Kindern in Paris. Hepworth unternahm ihrerseits Reisen nach Frankreich, wo sie unter anderem die Ateliers von Hans Arp, Constantin Brâncuși und Piet Mondrian besuchte. Über den Besuch in Arps Atelier schrieb sie: »… das erste Mal sein Werk zu sehen, befreite mich von vielen Hemmnissen und half mir, die Figur in der Landschaft mit neuen Augen wahrzunehmen. Ich stand [im Zug nach Avignon] fast die ganze Zeit im Gang, blickte auf das herrliche Rhônetal und dachte daran, wie Arp die Landschaft in so außergewöhnlicher Weise mit der menschlichen Form verbunden hatte.« ⁷
Gemeinsam mit Nicholson trat sie der Pariser Gruppe Abstraction-Création bei, der Künstler wie Arp, Alberto Giacometti, Alexander Calder und Naum Gabo angehörten. Gabo übersiedelte im März 1936 nach London, wo es zu einer engen Zusammenarbeit mit Hepworth und Nicholson kam. Im Jahr 1937 erschien der gemeinsam publizierte Band Circle. International Survey of Constructive Art, der ihren ästhetischen Überzeugungen Ausdruck verlieh. Nicholson, Gabo und der Architekt Leslie Martin betätigten sich als Herausgeber, während Hepworth zusammen mit der mit Martin verheirateten Designerin Sadie Speight für Layout und Produktion verantwortlich zeichnete. Der Band war in vier Abschnitte unterteilt: Malerei, Skulptur, Architektur sowie einen abschließenden Teil zu »Kunst und Leben«, der verschiedene Themen behandelte und unter anderem Essays von Walter Gropius zu »Kunsterziehung und Staat«, von Léonide Massine zu »Choreografie« und von Karel Honzík zur »Biotechnik« enthielt. Die Wurzeln der geometrischen Abstraktion, die die Grundlage von Circle bildete, verortete Honzík in Beobachtungen der Natur. Er sprach von »… zwei sich stetig weiterentwickelnden Zweigen der Technologie, einem menschlichen und einem pflanzlichen«, und führte Beispiele an, in denen modernes Design die funktionalen Formen einer unter dem Mikroskop betrachteten Natur aufgreift.⁸ Ähnlich äußerte sich der Kristallograf John Desmond Bernal in seinem dem Abschnitt Skulptur zugeordneten Essay »Kunst und der Wissenschaftler«. Er illustrierte die Nähe von Kunst und Physik durch die Nebeneinanderstellung zweier formal ähnlicher Bilder: einer Fotografie von Hepworths Skulptur Two Forms (1934) sowie der Darstellung einer »Äquipotenzialfläche für zwei gleiche Ladungen«. Ihren eigenen Textbeitrag in Circle widmete Hepworth dem Formbewusstsein in Bezug auf die Landschaft. Auch sie vertrat die Ansicht, dass sich die Abstraktion über die Formulierung physikalischer Gesetzmäßigkeiten von der Natur herleite. Weiter verwies sie auf »… Grundsätze und Regeln, die eine Aktivierung unserer Erfahrung erlauben und die Skulptur zu einem Vehikel für die Projektion unserer Empfindungen auf die gesamte Existenz machen«.⁹
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Herbst 1939 und die Gefahr von Bombenangriffen bewegten Hepworth und Nicholson dazu, London zu verlassen. Sie folgten der Einladung ihrer Freunde Margaret Mellis und Adrian Stokes und zogen mit ihren Kindern nach Carbis Bay im äußersten Südwesten Englands. Dort, im ländlichen Cornwall, zeigte sich wohl am deutlichsten der Einfluss der Landschaft auf Hepworths Schaffen. In den frühen 1940er-Jahren entstanden weitgehend abstrakte Skulpturen aus Holz, Stein oder Gips. Ihre Innenflächen sind in Weiß, Gelb und Blauschattierungen gefasst und oft mit einem komplexen Geflecht von Schnüren versehen, die den negativen Raum in und um die Formen herum betonen. Im Jahr 1952 schrieb Hepworth über diese Werke: »… die Farbe in den Konkavformen ließ mich stärker in die Tiefenempfindung von Wasser, Grotten und Schatten eintauchen als die herausgemeißelten Konkavformen selbst. Die Schnüre entsprachen der Spannung, die ich zwischen mir und dem Meer, dem Wind oder den Hügeln empfand.«¹⁰
Für die materielle Beschaffenheit des Bodens und die Ästhetik der Geologie fand Hepworth lyrische Worte: »Die herandrängenden und zurückweichenden Gezeiten ließen eine eigentümlich wunderbare Kalligrafie auf dem hellen Granitsand entstehen, in dem Feldspat und Glimmer funkelten. Die reichen Mineralienvorkommen Cornwalls zeigten sich direkt an der Oberfläche: Quarz, Amethyst und Topas, unten in den alten Minenschächten Zinn und Kupfer, dazu Geologie und Vorgeschichte – tausend Fakten, die tausend Fantasien zu Form und Funktion, Struktur und Leben eingaben, die in die Herausbildung dessen, was ich sah und was ich war, eingeflossen waren.«¹¹
Hier offenbart sich die enge körperliche Nähe und Verbundenheit, die Hepworth ihrer Umgebung entgegenbrachte. Im selben Text beschrieb sie die über zehn Jahre hinweg gewonnenen Eindrücke der kornischen Landschaft. Dabei lassen ihre Beobachtungen der Natur nicht nur eine Teilhabe an ihr erkennen, sondern das Gefühl, vollständig integrierter Teil eines Ganzen zu sein: »Ich war die Figur in der Landschaft, und jede Skulptur barg mehr oder weniger deutlich die sich stetig wandelnden Formen und Konturen, in denen sich meine Reaktion auf eine bestimmte Position in der Landschaft niederschlug. Welch andere Form und anderes ›Wesen‹ man doch wird, wenn man im Sand liegend das Meer fast über sich hat, als wenn man sich auf einer hohen steilen Klippe gegen den Wind stemmt und die Seevögel darunter ihre Kreise ziehen, und welch ein Gegensatz zwischen der Form, die man in sich verspürt, wenn man an großen Felsen Schutz sucht oder aber in der Sonne auf den grasbedeckten Felsformationen liegt, die die Doppelspirale von Pendour oder Zennor Cove bilden; diese Wandlung hin zu einer grundlegenden Einheit mit Land und Meer, die sich aus allen Sinneswahrnehmungen ableitet, war eine Entdeckungsreise für mich.« ¹²
Auch Hepworths Titelgebungen zeugen zunehmend vom Einfluss der Landschaft, so etwa Sea Form (Porthmeor) von 1958. Der in Klammern gesetzte Zusatz bezieht sich auf die südlich von St Ives gelegene, landschaftlich spektakuläre Bucht, die heute ein beliebter Ort zum Surfen, aber auch Schauplatz von Protesten gegen den Klimawandel ist. Hepworth war 1956 zur Arbeit mit Metall zurückgekehrt, und in Bronze gegossene Werke wie Sea Form (Porthmeor) verdeutlichen die konstante Dynamik der Natur, die durch Hepworths Umgang mit dem Material noch verstärkt wird. Ein 1961 verfasstes Notizbuch, das ihre ureigene Herangehensweise an das Material dokumentiert, führt diverse Werkstoffe mit ihren Eigenschaften auf: »Feuer, fließendes Metall, geschmolzen – leidenschaftliche angehaltene Bewegung – Auslöser von Klang und Nachklang«, im Gegensatz zum »Blech unter Spannung«, das auf »anverwandte Kurvenrhythmen« verweist.¹³ Beide Arten von Metallplastiken beziehen sich auf Bewegung, doch spielen die Titel der unter Spannung gesetzten Werke aus Blech auf einen kontrollierten Rhythmus an. So etwa Curved Form (Pavan), wobei es sich bei der Pavane um einen Hoftanz des 16. Jahrhunderts handelt. Die Bronzearbeiten hingegen bestehen aus einer mit Draht und Gips verkleideten Metallarmatur, die anschließend mit flüssigem Metall überzogen wurde. Wegen seiner Modellierbarkeit eignet sich Gips sehr gut für die Gestaltung fließender, offener Formen. Die Skulpturen erinnern an die unkontrollierbaren Kräfte der Natur, von der ruhigeren Skulptur Corymb (1959) – ein botanischer Begriff, der die an einen Schirm erinnernde Form eines Blütenstands beschreibt – bis hin zu Werken wie Sea Form (Porthmeor) und Involute II, welche die rollende Bewegung des Meeres heraufbeschwören. Hepworth schrieb: »Es sind allesamt Meeres- und Felsenformen, die sich von Porthcurno an der Küste von Land’s End mit ihren eigenartigen, vom Meer ausgewaschenen Grotten herleiten. Sie zeigen die Erfahrungen von Menschen – die Bewegung von Menschen in etwas hinein oder aus ihm heraus ist stets Teil von ihnen. Es sind Bronzeskulpturen, ein Material, das naturgemäß größere Offenheit erlaubt.«¹⁴
Die Hinwendung zu Metall überrascht bei einer Künstlerin, die zuvor für die eigenhändige Bearbeitung organischer Materialien bekannt war. In einem Gespräch 1951 zwischen Hepworth und ihrem britischen Bildhauerkollegen Reg Butler tat dieser die Skulpturen Hepworths als Betrachtungen einer »idyllischen Existenz« ab, die einem vergangenen »Zeitalter der Stabilität« angehörte. Seine eigenen plastischen Arbeiten und die anderer Künstler einer jüngeren Generation hingegen, die unter dem Begriff Geometry of Fear bekannt wurde, würden die Ängste der Nachkriegszeit sowie des Kalten Krieges thematisieren. Ihre Arbeiten aus Metall spiegelten das Dasein »in einem Tumult von Schleifmaschinen, Schweißgeräten, tosenden Feuern und so etwas wie einer Manifestation von Angst im Leben«.¹⁵ Hepworth widersprach dem in mehreren Punkten: Zum einen habe es ihrer Meinung nach etwas wie eine idyllische Kultur überhaupt nie gegeben, auch sei die Menschheit zu jeder Zeit mit Problemen konfrontiert gewesen.¹⁶ Zudem verwies sie auf Ängste der Gegenwart, von denen auch ihre Skulpturen durchdrungen seien: »Ich bin überzeugt, dass wir alle im 20. Jahrhundert aussterben werden, wenn wir nicht die gelebten Werte wieder in den Vordergrund stellen, die einfachen menschlichen Instinkte, die doch das Einzige sind, was den Menschen am Leben erhält.« ¹⁷
Die Menschheit sollte versuchen, wieder im Einklang mit der Natur zu leben. An diesen Werten hielt sie auch fest, als sie die Wahl ihrer Werkstoffe um flüssiges Metall erweiterte, um der »immerwährenden Bewegung« der Natur Form zu geben. Tatsächlich hatte sich Hepworth längst dem technischen Fortschritt geöffnet und sah ihn in einem ästhetischen Dialog mit der Natur, den sie bereits 1934 in einem Statement für das künstlerische Kollektiv Unit 1 anhand einer Reise durch die Landschaft beschrieben hatte: »In einem elektrischen Zug fahre ich nach Süden und sehe ein blaues Flugzeug zwischen einem gepflügten Feld und einer grünen Wiese, Strommasten in reizvoller Gegenüberstellung mit frühlingshaftem Rasen und Bäumen jeder Gestalt.«¹⁸
Die Verknüpfung von Technologie und Landschaft schlug sich auch in Hepworths Reaktionen auf den »Wettlauf ins All« der 1960er-Jahre nieder. Am Ende des Jahrzehnts merkte sie in einem mit Edward Mullins geführten Briefwechsel und Gesprächen von 1969/70 an, dass die Tatsache, dass Menschen zum Mond fliegen könnten, nicht nur das Denken der Menschen radikal verändert, sondern auch entscheidenden Einfluss auf die Skulptur und ihre Formen gehabt habe.¹⁹ Und in einer 1966 verfassten schriftlichen Notiz mit dem Titel »The Sun and the Moon« äußerte sie, dass dieses neue, von Wissenschaft geprägte Zeitalter nach einem neuen Sinn für Poesie verlange.²⁰ Die Aushöhlungen in ihren Skulpturen gewannen somit eine neue Bedeutung, indem sie sich sowohl mit der Erde als auch mit der kosmischen Landschaft verbanden.²¹
Auch wenn Hepworth den technischen Fortschritt begrüßte, war sie sich doch der zunehmend problematischen Beziehung zwischen Mensch und Umwelt bewusst. 1970 erklärte sie in einem Interview: »Umweltverschmutzung, Schädlingsbekämpfung, Naturschutz – all diese Fragen sind von existenzieller Bedeutung. Ich denke, es bleiben uns nur noch zwanzig Jahre, um diese und die hiermit verbundenen Probleme zu lösen. … Immer wieder hören wir, dass die Zeit drängt, entscheidend ist hier das Wort ›sofort‹«.²²
Hepworth nutzte ihr Renommee als eine der bedeutendsten Künstlerinnen Großbritanniens, um Einfluss auf umweltpolitische Entscheidungen zu nehmen. So unterstützte sie etwa 1963 lokale Aktivistinnen und Aktivisten, die sich gegen die Wiedereröffnung einer Zinnmine in Cornwall wehrten: »Wir haben unserer Nachwelt gegenüber die Pflicht, dafür zu sorgen, dass Orte von seltener Schönheit und stiller Einsamkeit – ganz gleich aus welchen Gründen – nicht zerstört werden. Denn dies wäre eine Bankrotterklärung unserer Generation und ein Verbrechen, für unsere Kinder nicht zu bewahren, was uns vermacht worden ist. Nämlich ein Ort, den wir besuchen und an dem wir uns eins fühlen können mit Gott und dem Universum.«²³
Zur Verbindung von Spiritualität und Landschaft äußerte sich Hepworth wiederholt gegen Ende ihres Lebens, in ihren Briefen auch schon deutlich früher. 1943 schrieb sie an ihren Freund, den Kritiker E. H. Ramsden: »Hier, wo man Achtung vor einem Stein auf dem Feld hat, wird die spirituelle Reaktion des Menschen auf Skulptur in ihrer unmittelbaren Wirkung gegenwärtig.«²⁴ Sie bezog sich damit auf neolithische Felsformationen der britischen Prähistorie, welche die Landschaft Cornwalls bevölkern, wobei ein besonderer Zusammenhang zwischen einem von ihnen und einer bedeutenden öffentlichen Skulptur Hepworths besteht. Single Form (Chûn Quoit) entstand 1961, kurz nach dem Tod Dag Hammarskjölds. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hatte 1956 Kontakt zu Hepworth aufgenommen, nachdem er eine ihrer Skulpturen für sein Büro ausgewählt hatte. Aus dem sich hieraus entwickelnden Briefwechsel wurde eine Freundschaft. Sie trafen sich 1958 in London, wo Hammarskjöld eine Rede über die diplomatische Rolle der UNO bei den Bemühungen um weltweite nukleare Abrüstung hielt – ein Thema, das Barbara Hepworth als aktive Fürsprecherin der britischen Kampagne für nukleare Abrüstung sehr am Herzen lag.
Hammarskjöld hatte erwogen, Hepworth mit der Gestaltung einer Skulptur für das Wasserbecken vor dem UN-Hauptquartier in New York zu beauftragen. Die Künstlerin erinnerte sich: »Wir sprachen über die Natur des Ortes und über die Art von Formen, die ihm gefielen. [Single Form] Chûn Quoit und die kleine Walnussschnitzarbeit Single Form (September) entstanden mit Dag im Geiste.«²⁵
Bei Chûn Quoit handelt es sich um eine neolithische Steinsetzung in Cornwall, eine Form, der Hepworth eine Schutzsymbolik zuschrieb. Die aufrechte Form sei somit ein Sinnbild für die urmenschlichen Wünsche nach Schutz und Sicherheit.²⁶ Im September 1961 kam Hammarskjöld bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, und die Skulptur wurde zu seinem Gedenken in Auftrag gegeben. Single Form (1961–1964) ist eine der monumentalsten öffentlichen Auftragsarbeiten Hepworths und zugleich eng mit der Landschaft verbunden.
Diese scheinbaren Gegensätze – großstädtisch und ländlich, international und lokal, monumental und intim – standen für Hepworth oftmals in engem Dialog und bildeten integrale Bestandteile menschlicher Erfahrung, die in bildhauerischer Form zum Ausdruck kommt. 1965 schrieb sie: »Die Landschaft eines Bildhauers umfasst alles, was lebt und gedeiht und an sich etwas ausdrückt: die Form der sich bereits im Herbst ausbildenden Knospen, die entfesselte Kraft des Frühlingssprießens, die Anpassung von Bäumen, Felsen und Menschen an die Härten des Winters – all das gehört zur Welt eines Bildhauers ebenso wie die absolute Wahrnehmung von Mann, Frau und Kind in unserem sich ausdehnenden Universum.«²⁷
¹ Hepworth 1966, wiederabgedr. in Bowness 2015, S. 191: »I cannot write anything about landscape without writing about the human figure and human spirit inhabiting the landscape. For me, the whole art of sculpture is the fusion of these two elements—the balance of sensation and evocation of man in this universe«.
² Transkribiert in Hepworth 1970, S. 9: »All my early memories are of forms and shapes and textures. I remember moving through the landscape with my father in his car, and the hills were sculptures, the roads defined the forms. There was the sensation of moving physically over the fullness of a moor, and through the hollows and slopes of peaks and dales, feeling, seeing, touching, through the mind, the eye and the hand. The touch and texture of things. Sculpture, rock, myself and the landscape. This sensation has never left me, I the sculptor, am the landscape«.
³ Ebd.: »… the country is quite flat but for a little hill with a tall flint church and a lighthouse. The trees are all bowed to west and birds seem to dominate all. I feel as though I too have wings on such flat earth. The beach is a ribbon of pale sand as far as the eye can see«.
⁴ Hepworth 1930, wiederabgedr. in Bowness 2015, S. 14: »There is an unlimited variety of materials from which to draw inspiration. Each material demands a particular treatment and there are an infinite number of subjects in life each to be re-created in a particular material. In fact, it would be possible to carve the same subject in a different stone each time, throughout life, without a repetition of form«.
⁵ Brief von Hepworth an Nicholson, 14. August 1931 (Poststempel), Tate Archive TGA 8717.1.1.46: »They have moved me more than anything I have ever seen sculpturally. We took a boat out into the western islands and there were purple rocks, groups of rocks, hundreds of rocks all worn by the water and yet retaining their fundamental thrust and we sailed round watching the changing aspects and the revealing of surprising movement«.
⁶ Ebd.: »… the country is quite flat but for a little hill with a tall flint church and a lighthouse. The trees are all bowed to west and birds seem to dominate all. I feel as though I too have wings on such flat earth. The beach is a ribbon of pale sand as far as the eye can see«.
⁷ Hepworth 1970, S. 22–23: »… seeing his work for the first time freed me of many inhibitions and this helped me to see the figure in the landscape with new eyes. I stood in the corridor almost all the way [on the train to Avignon] looking out on the superb Rhone valley and thinking of the way Arp had fused landscape with the human form in so extraordinary a manner«.
⁸ Honzík 1937, S. 257: »… two branches of technology in constant process of evolution, one human and the other phytogenical«.
⁹ Hepworth 1937, S. 115: »… the principles and laws which are the vitalization of our experience, and sculpture a vehicle for projecting our sensibility to the whole of existence«.
¹⁰ Hepworth 1952, wiederabgedr. in Bowness 2015, S. 68: »The colour in the concavities plunged me into the depth of water, caves, of shadows deeper than the carved concavities themselves. The strings were the tension I felt between myself and the sea, the wind or the hills«.
¹¹ Ebd., S. 67–68: »The incoming and receding tides made strange and wonderful calligraphy of the pale granite sand which sparkled with felspar and mica. The rich mineral deposits of Cornwall were apparent on the very surface of things; quartz, amethyst, and topaz; tin and copper below in the old mine shafts, and geology and prehistory—a thousand facts induced a thousand fantasies of form and purpose, structure and life which had gone into the making of what I saw and what I was«.
¹² Ebd., S. 68: »I was the figure in the landscape and every sculpture contained to a greater or lesser degree the ever-changing forms and contours embodying my own response to a given position in the landscape. What a different shape and ›being‹ one becomes lying on the sand with the sea almost above from when standing against the wind on a high sheer cliff with seabirds circling patterns below one, and again what a contrast between the form one feels within oneself sheltering near some great rocks or reclining in the sun on the grass-covered rocky shapes which make the double spiral of Pendour or Zennor Cove; this transmutation of essential unity with land and seascape, which derives from all the sensibilities, was for me a voyage of exploration«.
¹³ Notizen aus einem im Zusammenhang mit dem Vortrag für den British Council entstandenen Skizzenbuch, 1961, Tate Archive, wiederabgedr. in Bowness 2015, S. 161: »fire, running metal, molten—passionate, arrested movement—inducement of sound and resonance«.
¹⁴ Bowness 1971, S. 12: »These are all sea forms and rock forms, related to Porthcurno on the Land’s End coast with its queer caves pierced by the sea. They were experiences of people—the movement of people in and out is always a part of them. They are bronze sculptures, and the material allows more openness of course«.
¹⁵ Gespräch mit Reg Butler, 28. September 1951, Ausstrahlung 26. August 1952, BBC Third Programme, Artists on Art, Transkript in Bowness 2015, S. 51, 53: »pastoral existence«; »an age of greater stability«; »… in a tumult of grinders and welders and roaring fires and a find of manifestation of anxiety through life«.
¹⁶ Vgl. ebd., S. 52.
¹⁷ Ebd., S. 50: »I am convinced that in this 20th century we shall all become extinct unless we re-stress the living values of what are primitive instincts in man and are the only things which really keep him alive«.
¹⁸ Barbara Hepworth in: Read 1934, wiederabgedr. in Hepworth 1970, S. 30: »In an electric train moving south I see a blue aeroplane between a ploughed field and a green field, pylons in lovely juxtaposition with springy turf and trees of every stature.« Ich danke Dr. Rachel Smith und Sara Matson, die diesen Text in ihren Vortrag für das Hepworth Research Network vom 28. November 2022 über Hepworth und die Umwelt einbezogen haben.
¹⁹ Ausst.-Kat. London 1970, wiederabgedr. in Hepworth 2015, S. 223.
²⁰ The Sun and Moon, Juli 1966, signiert von Barbara Hepworth, Tate Archive TGA 201518.
²¹ Katalognotiz: Porthcurno, 22. März 1967, Tate Archive TGA 965/2/9/16/89: »The light pouring through a hole, whether sun or moon: The texture of sea, sand or land: The colour of dawn or sunset; all put into the poise of the human response to our environment and the expanding universe«.
²² Hepworth 1970 in einem Gespräch mit William Wordsworth, wiederabgedr. in Bowness 2015, S. 226: »Pollution, pest control, conservation—all these things are of absolutely vital importance. I would think we have no more than about twenty years to cope with these and their related problems … We are repeatedly told it is urgent, the operative word is immediate«.
²³ Stellungnahme zur Untersuchung über die geplante Minenerschließung in Carnelloe nahe Zennor, 18. März 1963: »We have a duty to posterity to ensure we do not despoil places of rare beauty and quiet solitude. To do so for any reason whatsoever would be a confession of total failure on the part of our generation, and a crime, on our part, if we do not preserve for our children what we ourselves have been bequeathed. That is, a place to visit where we can feel at one with God and the universe«.
²⁴ Brief von Barbara Hepworth an E. H. Ramsden, 4. April 1943, Tate Archive TGA 9310.1.1.15: »Here, where people respect a stone in a field—one gets the direct impact of man’s spiritual reaction to sculpture«.
²⁵ Notizen zu Hepworths Mitwirkung an dem von John Read gedrehten BBC-Film Barbara Hepworth (1961), zit. nach Bowness 2015, S. 146: »We talked about the nature of the site, and about the kind of shapes he liked. I also made [Single Form] Chûn Quoit and the small walnut carving, Single Form (September), with Dag in mind«.
²⁶ Vgl. ebd.